Agilität braucht Organisation
Kürzlich habe ich es wieder gehört: „Das Projekt ist agil. Da dürfen wir uns als Führungskräfte nicht mehr einmischen. Aber irgendwie läuft es nicht so, wie wir es erwarten. Die Leute übernehmen keine Verantwortung.“ Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass zwar eine grundsätzliche Projektausrichtung vorhanden war, jedoch keine klaren Verantwortlichkeiten, Prozesse und Strukturen. Der Tenor: „Das muss sich ergeben.“ Nein, das reicht nicht! Agilität braucht Organisation, genauer gesagt Selbstorganisation.
Selbstorganisation beginnt bei der Person
Starten wir mit einer Begriffsklärung von Selbstorganisation. Zum einen ist damit oft das Selbstmanagement einer Person gemeint und umfasst das persönliche Zeit- und Prioritätenmanagement. In einer weiteren Begriffsdeutung kann das auch die Selbstregulierung im Sinne von Reflektionsfähigkeit sowie Gefühls- und Impulskontrolle beinhalten. Noch pointierter formuliert: Hier geht es um Selbstdisziplin.
An einem einfachen Beispiel festgemacht: Die agilen Werte „Fokus“ und „Disziplin“ bedingen in der praktischen Umsetzung pünktliches Erscheinen zu Besprechungen. Auch das Unterlassen von „Nebenbeschäftigungen“ wie das Lesen von E-Mails während der Interaktion mit anderen fällt darunter.
All diese Aspekte der persönlichen Selbstorganisation unterstützen die Zusammenarbeit im agilen Setting. Legen Sie daher bei der Auswahl und Entwicklung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Augenmerk darauf. Fordern Sie Selbstdisziplin ein, bei sich selbst und bei anderen.
Das Team
Das selbstorganisierte Team wird mit Fug und Recht als die Keimzelle des agilen Arbeitens bezeichnet. Daher ranken sich mittlerweile auch viele Mythen um diese Form der Teamarbeit, zumal der Begriff „Selbstorganisation“ nicht einheitlich verwendet wird. Räumen wir daher mit dem Mythos auf und schaffen Tatsachen! Zuallererst widmen wir uns der Teamdefinition. In Anlehnung an den Teamexperten J. Robert Hackmann zeigt ein echtes Team vier Ausprägungen:
- Gemeinsame Aufgaben zur Erfüllung einer festgelegten Mission
- Klare Grenzen in Bezug auf Informationsfluss, Abstimmung mit anderen Organisationseinheiten, Ressourcen und Entscheidungsmechanismen
- Befugnis, sich innerhalb dieser Grenzen selbst zu managen
- Stabilität über einen angemessenen Zeitraum hinweg
Wichtig dabei: Verwechseln Sie sogenannte „Co-acting Groups“ nicht mit Teams. Mitglieder einer Co-acting Group arbeiten nahe nebeneinander an einem gemeinsamen Ziel, brauchen sich gegenseitig jedoch nicht, um ihre jeweiligen Aufgaben zu erfüllen. Das bedeutet: Es gibt kaum Kommunikation und Interaktion zwischen den einzelnen Akteuren.
Das selbstorganisierte Team: Selbstorganisation ist nicht gleich Selbstorganisation
Jetzt wissen wir, was ein Team ist. Wie lässt sich nun ein selbstorganisiertes Team definieren? Soviel vorab: Selbstorganisation im Zusammenhang mit Teams ist ein Oberbegriff oder besser gesagt ein Begriffskontinuum. Zur Vereinfachung greifen wir auf die vier wichtigsten Kriterien zurück, die das Ausmaß der Selbstorganisation eines Teams beschreiben:
- Die Vorgabe der übergeordneten Richtung für das Team, wie z.B. Teampurpose und Organisationsziele
- Die Teamzusammenstellung und die Gestaltung des Kontexts, wie z.B. Teammitglieder, Teamwerte und -normen, Ressourcenverteilung
- Überwachung und Managen der Arbeitsprozesse
- Die Ausführung der Aufgaben
Je nachdem, ob nun die Führungskraft oder das Team selbst die Verantwortung für das jeweilige Kriterium innehat, lassen sich vier verschiedene Ausprägungen der Selbstorganisation daraus ableiten. J. Robert Hackmanns Autoritätsmatrix stellt das in sehr anschaulicher Weise dar:
- In managergeführten Teams verantworten die Teammitglieder lediglich die Ausführung der Aufgaben. Alle anderen Kriterien liegen im Gestaltungsbereich der Führungskraft. Expertengruppen in funktionalen Silos sowie traditionelle Projektmanagement-Teams sind typische Beispiele dafür.
- In selbstgemanagten Teams, die oft auch selbstorganisierte Teams genannt werden, verantwortet das Team darüber hinaus auch die Gestaltung und Überwachung der Arbeitsprozesse. Die Vorgabe der Ausrichtung und die Teamzusammenstellung bleiben im Verantwortungsbereich der Führungskraft. Viele Kanban und Scrum Teams lassen sich dieser Ausprägungsart zuordnen.
- Selbstdesignende Teams übernehmen darüber hinaus noch die Verantwortung für die Teamzusammensetzung und die Gestaltung des Kontexts. Einige Innovationsteams in einem sehr frühen Stadium der Exploration sind hier beispielhaft genannt. Auch bei der Skalierung von agilen Ansätzen finden sich oft selbstdesignende Teams.
- Selbstgesteuerte Teams tragen die Verantwortung für alle vier Kernfunktionen. Beispielhaft genannt sind hier Genossenschaften oder auch Start-ups. Auch im Bereich von gesamtheitlichen Ansätzen der Selbstorganisation wie Holokratie und Soziokratie finden sich diese Teamformen.
Klarheit und Disziplin in der praktischen Umsetzung
Diese Begriffserklärung zeigt: Alle reden von Selbstorganisation und haben doch ganz unterschiedliche Bilder davon im Kopf. Klären Sie daher im Vorfeld mit allen Beteiligten ab, welches Ausmaß an Selbstorganisation in Ihrem Umfeld sinnvoll ist!
Für die praktische Umsetzung ist dann wieder Disziplin gefordert. Klare Rollen und Verantwortlichkeiten sowie Sichtbarmachen und Einhalten der Vereinbarungen sind kritische Erfolgsfaktoren dabei. Eine Führungskraft, die ganz plötzlich kalte Füße bekommt und in einem selbstorganisierten Team interveniert, muss sich nicht wundern, dass danach von Selbstorganisation wenig überbleibt.
Selbstorganisation braucht Führung
Andererseits sind gerade Führungskräfte gefordert, ihre Verantwortung am Gelingen der Selbstorganisation auch wirklich wahrzunehmen. Die besten agilen Praktiken nützen nichts, wenn das Team keinen klaren Purpose hat oder die Teamzusammensetzung nicht stimmig ist.
Besonders gefordert ist Führung dort, wo es gilt, Abhängigkeiten und Schnittstellen zwischen selbstorganisierten Teams zu klären und zu managen. Oft begegne ich in meiner Beratungspraxis frustrierten Teams, die strukturelle Probleme und Ressourcenkonflikte lösen sollen, die auf ihrer Ebene nicht lösbar sind. Hier braucht es klar definierte Prozesse, die Eskalationen bestenfalls gleich im Vorfeld verhindern. Idealerweise sind diese so aufgesetzt, dass Anpassungen an veränderte Gegebenheiten einfach und rasch möglich sind.
Aus meiner Sicht ist es ein großer Irrtum, zu glauben, dass es reicht, selbstorganisierte Teams zu etablieren und damit das Unternehmen gesamthaft agil und anpassungsfähig zu gestalten. Diese sogenannte Businessagilität erreichen Sie vielmehr, indem Sie auf allen Ebenen radikal und damit hoch diszipliniert hinterfragen, was Kunden- und damit Businesswert schafft und was diesen eher be- oder gar verhindert. Hier sprechen wir von Strategie, Portfoliosteuerung, Infrastruktur, Prozessen, Kompetenzen, Incentivierung und nicht zuletzt von der Unternehmenskultur.
Nicht einfach, aber wirkungsvoll
Wenn Sie jetzt sagen, es ist einfacher, in einer klassischen Organisationsform zu arbeiten als in der Selbstorganisation, dann haben Sie durchaus recht. Selbstorganisation erfordert mehr Disziplin von allen Beteiligten und kann auch richtig anstrengend sein. Wie im Sport, hilft hier am besten: Training, Training und nochmals Training!
Selbstorganisiertes Arbeiten wird immer wichtiger für echte Businessagilität. Sie werden sehen: Mit Disziplin und Durchhaltevermögen stellen sich bald die ersten Erfolge ein. Nur Mut und gutes Gelingen!
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