Emotionale Agilität: Was ist das?

Genau genommen sind unsere Emotionen einfach Datenmaterial, das wir für uns nutzen können oder eben nicht. Emotionale Agilität ist somit die Fähigkeit, die eigenen Gefühle als Informationsbasis für bessere Entscheidungen in herausfordernden Situationen zu verwenden

Vergessen Sie den Versuch, Ihre Gefühle komplett auszuschalten oder völlig zu kontrollieren! Es wird Ihnen nicht gelingen. Hier liegt auch der Unterschied zur Emotionalen Intelligenz (EQ). Zwar stellt auch diese das bewusste Wahrnehmen der eigenen Gefühle und deren Auswirkungen auf andere in den Fokus. Der EQ-Ansatz geht jedoch davon aus, Emotionen zu kontrollieren. Das Konzept der Emotionalen Agilität setzt eher darauf, mit den eigenen Gefühlen in Einklang zu kommen.
 

Emotionen gewinnen immer

Kennen Sie die Geschichte – bekannt als die Lighthouse and naval vessel urban legend –, in der der hochdekorierte Kapitän eines großen Schlachtschiffes per Funk ein anderes Schiff auffordert, den Kurs zu ändern, damit es zu keiner Kollision kommt? Die Person auf der anderen Seite des Funkgeräts schlägt im Gegenzug vor, das große Schiff möge doch den Kurs ändern. Der Kapitän findet das unerhört und wird richtig wütend. Er befiehlt dem rangniedrigen Matrosen auf dem offensichtlich viel kleineren und unbedeutenderen Boot eine sofortige Kursänderung. Hoch emotional weist er auf seinen Kapitänsrang und die Bedeutung seines großen Schlachtschiffs hin. Ganz unbeeindruckt kommt die Antwort aus dem Funk: „Sir, das ist ein Leuchtturm und ich bin der Wärter. Somit liegt es an Ihnen, den Kurs zu ändern.“  

Ob sich das so zugetragen hat, wissen wir nicht genau. Doch eines zeigt uns die Geschichte auf jeden Fall: Überbordende Emotionen verengen unseren Blick und unsere Handlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig sind Gefühle ein sehr wertvolles Orientierungs- und Warnsystem. Denn ähnlich wie in dieser Legende sind Ihre Gefühle der Leuchtturm, der Sie daran hindert, Schiffbruch zu erleiden, sofern Sie auf diese achten. 

Praxistipps für die Steigerung Ihrer Emotionalen Agilität in sechs Schritten

Die folgenden Praxistipps können Ihnen dabei helfen, Ihre eigene Emotionale Agilität zu stärken und auszubauen. Es handelt sich um umfassende Erfahrungen aus meiner Kundenarbeit gepaart mit den aktuellen Erkenntnissen zum Konzept der Emotionalen Agilität.

1. Werfen Sie unrealistische Ansprüche und Erwartungen über Board

Nach wie vor wird von Führungskräften ein Idealbild gefordert: Sie haben immer gut gelaunt und stoisch zu sein, zuversichtlich und ohne jegliche Negativität. Diese überhöhte Erwartungshaltung bringt oft mit sich, dass Führungskräfte Situationen vermeiden, in denen Sie mit unerwünschten Gefühlen konfrontiert werden könnten. So wird zum Beispiel ein klärendes Konfliktgespräch nicht geführt oder der so wichtige Auftritt vor einem größeren Publikum einfach nicht wahrgenommen.

Wenn sich gewisse Situationen nicht vermeiden lassen und somit auch nicht die damit verbundenen Emotionen, entwickeln Führungskräfte zusätzlich ein Gefühl des Versagens. Denn der Versuch, die eigenen Gefühle zu kontrollieren, mündet oft in einem unauthentischen Verhalten. Die Glaubwürdigkeit der Führungskraft sinkt bis hin zu schweren Irritationen im Umfeld.

Gerade jetzt, wo die Zeiten herausfordernd sind, dreht sich das in eine Negativspirale ein. Führungskräfte ziehen sich eher zurück, Mitarbeiter fühlen sich allein gelassen. Nehmen Sie daher vom Anspruch Abschied, immer und überall stark und fast gefühllos zu agieren! Akzeptieren Sie Ihre Emotionen als integrativen Bestandteil Ihrer Führungsrolle. Sie werden sehen, wie viel Erleichterung das bringt.  

 

2. Lernen Sie, Emotionen zu benennen

Wenn Sie nun akzeptieren, dass Gefühle einfach da sind, dann ist es wichtig, diese auch zu benennen. Das ist gar nicht so einfach. Probieren Sie es aus! Wie viele Emotionen können Sie aufzählen? Wie hängen diese zusammen? Zugegebenermaßen hatte ich damit selbst Schwierigkeiten. Daher mein Tipp: Recherchieren Sie ein wenig in Sachen Emotionen und verschaffen Sie sich einen gefühlsmäßigen Überblick! Lesenswert sind die Tipps zur Emotionenliste und zu den 27 Emotionen

Die Definition verschiedener Emotionen ist enorm vielschichtig und teilweise auch kontroversiell. Sie müssen deshalb jedoch nicht zum Hobbypsychologen werden! Es reicht völlig, wenn Sie Ihre Gefühle prinzipiell benennen können. 

 

3. Erkennen Sie Ihre Muster

Mit Ihrer Neugier Ihren Emotionen gegenüber haben Sie schon einmal einen grundlegenden Schritt getan. Jetzt ist es wichtig, zu erkennen, ob und wie Sie sich von Ihren Gefühlen gefangen nehmen lassen. Ein auffälliges Zeichen dafür: Die gleichen Gedanken wiederholen sich immer und immer wieder. Sie können keine andere Sichtweise mehr einnehmen.  

Das lässt sich gut an einem Beispiel festmachen: In der Lockdown-Phase mit Homeoffice und Homeschooling zur gleichen Zeit kommen bei vielen - vor allem weiblichen - Führungskräften Schuldgefühle auf. „Ich leiste nicht genug im Job, lasse mein Team im Stich und kann der Verantwortung als Mutter nicht gerecht werden.“ Der Versuch, durch vermehrte Anstrengung und Multitasking das zu erreichen, führt immer mehr in die Sackgasse. Noch stärkere Gefühle von Versagen und Schuld sind die Folge. 
 

4. Akzeptieren Sie Ihre Gefühle

Dieses Drehen der Negativspirale können Sie unterbrechen. Sie müssen nicht auf jeden Ihrer Gedanken reagieren. Widmen Sie vielmehr Ihren Emotionen entsprechende Aufmerksamkeit! Atmen Sie mehrmals tief ein und aus und beobachten Sie einfach, was gerade passiert. Das bringt meist Erleichterung, aber Sie fühlen sich wahrscheinlich noch nicht viel besser. Vielleicht bemerken Sie erst jetzt, wie aufgebracht Sie sind. 

Was jetzt wichtig ist: Gönnen Sie sich selbst etwas Mitgefühl und betrachten Sie genauer die Situation, in der Sie sich gerade befinden! Was passiert da, in Ihnen und um Sie herum? Mit dieser Aufmerksamkeit stellt die überforderte Führungskraft aus dem vorhin genannten Beispiel fest, dass es unmöglich ist, zwei Aufgaben simultan zu bewältigen und die Schuldgefühle getriggert sind, vom Bedürfnis, es allen recht zu machen.  

 

5. Handeln Sie nach Ihren Werten

Durch das Bewusstmachen der eigenen Emotionen und den dazugehörigen Gedanken erweitern Sie Ihren Handlungsspielraum. Sie erhalten die Möglichkeit, Ihre Entscheidungen auf Ihre Werte auszurichten. Nutzen Sie dafür am besten folgende Leitfragen: 

  •  Hilft meine Reaktion mir und meinem Unternehmen oder meiner Familie sowohl kurz- als auch langfristig? 
  • Unterstütze ich dadurch andere, den Unternehmenspurpose voranzubringen? 
  • Komme ich durch mein Handeln einen Schritt näher an meine Vorstellungen von einem guten Job, einem guten Leben heran? 

Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Überhastetes Multitasking ohne Rücksicht auf die eigene Belastungsgrenze würde anhand der Leitfragen recht rasch als wenig nachhaltig, ja sogar als schädlich erkannt werden. Mit dieser Erkenntnis können in weiterer Folge mögliche Alternativszenarien angedacht werden.  

 

6. Gehen Sie es langsam an

Haben Sie nun anhand Ihrer Emotionen und geleitet von Ihrem Wertekompass Handlungsalternativen identifiziert, geht es an deren Umsetzung. Ganz wichtig hier: Nehmen Sie sich nicht zu viel auf einmal vor! Setzen Sie lieber kleinere Schritte und den ersten davon sofort. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie tatsächlich etwas verändern.  

An unserem Beispiel festgemacht kann das Folgendes bedeuten: Die Führungskraft definiert zuerst eine Vision der idealen Zukunft: „Ich setze Prioritäten und fokussiere auf das Wesentliche. Dadurch kann ich mich auf meine unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereiche konzentrieren. Ich gewinne an Stärke und Lebensfreude, weil ich auch auf meine eigenen Bedürfnisse achte.“ 

In einer Art Brainstorming werden Ideen gesammelt, wie es gelingen kann, dieser idealen Zukunft näherzukommen. Gleich vorweg: Das ist ein Ideenpool und nicht alle Ideen müssen auch implementiert werden! In einem weiteren Schritt priorisiert unsere Führungskraft diese Optionen nach ihrer Umsetzbarkeit. Sie wählt am besten eine recht einfach umzusetzende Idee aus, indem sie zum Beispiel eine kurze Achtsamkeitsübung in ihren Alltag integriert. Nach und nach folgen weitere kleine Veränderungen. Wenn eine Maßnahme nicht wirkt, wird sie einfach adaptiert oder gar verworfen. 

 

Viel Erfolg mit Gefühl

„Zieh dem Gefühl sieben Kleider über, es scheint durch!“ Dieses Zitat des deutschen Autor Manfred Hinrich fasst kurz und blumig zusammen, was auch für Ihr berufliches Umfeld gilt. In diesem Sinne: Investieren Sie nicht in ein neues Outfit zum Überdecken Ihrer Emotionen, sondern nutzen Sie Ihre Gefühle für sich und Ihren Erfolg. Gutes Gelingen! 

Sie wünschen sich Unterstützung bei einer konkreten Führungsherausforderung oder wollen gerade jetzt Ihre Leistungsfähigkeit erhalten?  Die Lösung ist oft einfacher als gedacht.
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